Nach den Karikaturen kamen die Bücklinge, im
Zusammenprall mit dem Islam werden zentrale Werte der Aufklärung
geopfert. Wie schwach ist Europa eigentlich? Überalterung,
Kindermangel und fehlendes Selbstbewusstsein – der alte Kontinent
zeigt alle Symptome einer untergehenden Kultur.
Wenn wir im Stau stecken, uns durch das Gewühl
im Warenhaus ringen, im Fernsehen die von Kindern wimmelnden
Elendsquartiere der Drittweltmetropolen sehen, haben wir den
Eindruck, dass die «Bevölkerungsbombe», die Paul Ehrlich in seinem
Bestseller von 1968 prophezeite, losgegangen ist. Hartnäckig hält
sich das Gefühl, dass der Globus hoffnungslos übervölkert ist und
dass das Zuviel an Menschen die Erde ruiniert. Wir machen uns Sorgen
über Folgen der Übervölkerung, Hunger, eine drohende
Klimakatastrophe, den Ansturm von Migranten, das Schwinden der
Rohstoffe. Gemäss statistischen Berechnungen wird die
Weltbevölkerung, die heute 6,5 Milliarden beträgt, im Jahr 2045 die
9-Milliarden-Grenze überschreiten.
Was uns in der Schweiz und
in Europa im Jahr 2006 jedoch zu denken geben sollte, ist nicht die
Zu-, sondern die Abnahme der Bevölkerung und die tektonischen
Verschiebungen in der Bevölkerungsstruktur der Welt. Weil der in
Europa seit drei Jahrzehnten registrierte ständige Geburtenrückgang
sich bloss in den Entbindungskliniken praktisch auswirkt und im
Alltag nicht gespürt wird, halten wir die bevorstehende
unaufhaltsame Schrumpfung der Bevölkerung für kein dringliches
Problem – eher gar für einen Segen. Die Zukunft wird uns eines
Besseren belehren.
Der englische Historiker Arnold Toynbee
hat geschrieben, dass oberflächliche, Schlagzeilen machende Dinge
unsere Aufmerksamkeit von den «langsameren, ungreifbaren, unwägbaren
Bewegungen, die unter der Oberfläche arbeiten und in die Tiefen
vordringen», ablenken. Doch es sind diese «tieferen, langsameren
Bewegungen», die Geschichte machen, während die «sensationellen,
vorübergehenden Ereignisse» in Vergessenheit geraten.
Zu alt zum Überleben
Vor hundert Jahren lebte ein
Viertel der Weltbevölkerung in Europa, 1950 betrug der europäische
Anteil noch 21,7%, heute ist er bei 11,5%, 2050 wird er noch bei 7%
sein. Während die europäische Bevölkerung sich verringert, steigt
diejenige der islamischen Länder. Innert fünf Generationen (von 1900
bis 2000) hat sich die Zahl der Muslime auf der Welt von 150
Millionen auf 1200 Millionen verachtfacht. Die Muslime vermehrten
sich im letzten Jahrhundert doppelt so schnell wie der Rest der
Welt.
Inzwischen erlebt Europa insgesamt, Süd- und Osteuropa
speziell, einen dramatischen Bevölkerungsschwund. In Italien, in
unserer Vorstellung immer noch das kinderreiche Land, in dem die
Bambini verhätschelt werden, sind heute bloss noch 13,9% der
Gesamtbevölkerung Kinder (unter 15), während die Alten (über
65-Jährigen) bereits 19,4% ausmachen. Im Vergleich: In Algerien gibt
es 29% Kinder, 4,7% Alte, in Äthiopien 43,9% Kinder, 2,7% Alte; in
Gaza gar 48,5% Kinder und nur 2,6% Alte. (Schweiz: 16,6% unter 15,
15,4% über 65).
Italien ist heute das «älteste» Land Europas.
Letztes Jahr sind mehr Italiener gestorben als auf die Welt
gekommen. Nur die Einwanderung von geschätzten 118000 hielt die
Bevölkerungszahl stabil. In den sechziger Jahren brachten
italienische Frauen jährlich eine Million Kinder zur Welt, seit den
neunziger Jahren sind es noch eine halbe Million jährlich. Dies
bedeutet, dass schon in zehn Jahren die Zahl der potenziellen Mütter
auf die Hälfte zurückgegangen sein wird. Der Bevölkerungsrückgang
wird sich beschleunigen. Bis 2050 rechnet man mit einer Schrumpfung
der Gesamteinwohnerzahl Italiens von heute 58,1 Millionen auf 52,2 –
sogar wenn die Einwanderung anhält und die Fertilität oder
Gesamtfruchtbarkeitsrate von heute 1,28 Kindern pro Frau wieder, wie
heute im «fruchtbaren» Skandinavien oder in Frankreich, auf 1,7 oder
1,9 steigt. Um die Bevölkerungszahl (ohne Einwanderung) stabil zu
halten, braucht es eine Fertilität von 2,1, die heute in Europa
nirgends erreicht wird.
Schon nach dem 1. Weltkrieg mit
seinen Millionen von Toten warnten Forscher und Politiker vor einer
bevorstehenden Entvölkerung und ihren möglichen Folgen für die
westliche Zivilisation. Für den Geschichtsphilosophen Oswald
Spengler waren Hochkulturen «wie die Blumen auf dem Felde». Sie
blühten auf, reiften und welkten. Das «Abendland» hatte gemäss
Spengler seinen Zenit überschritten und ging unentrinnbar dem
«Untergang» entgegen.
Der apokalyptische Schwarzseher
täuschte sich. Nach einem durch Stalins und Hitlers Völkermorde und
den 2. Weltkrieg verursachten Bevölkerungsrückgang setzte ein
unerwarteter Baby-Boom ein, der bis in die frühen sechziger Jahre
anhielt. Es waren nun die Probleme der Übervölkerung und der
Umweltzerstörung, die Öffentlichkeit und Politiker alarmierten.
Niemand störte es, als die Gesamtfruchtbarkeitsraten in den
europäischen Ländern unter das Ersatzniveau von 2,1 sanken – im
Gegenteil. Keiner Regierung fiel es ein, wie dies in den dreissiger
Jahren die italienischen und deutschen Diktaturen ebenso wie die
französischen und schwedischen Demokratien taten, aktiv «Natalismus»
oder Geburtenförderungspolitik zu betreiben. Staatliche Propaganda,
die Frauen zum Gebären auffordert, gilt als anrüchig. Es erinnert an
den rassistischen Fortpflanzungsfimmel der Nazis. Selbst eine aktive
Familienpolitik, die Betreuungsmöglichkeiten schafft und das
Kinderkriegen steuerlich begünstigt, hatte in den meisten
europäischen Staaten noch bis vor kurzem einen niedrigen
Stellenwert.
Der Preis des Wohlstands
In der Vergangenheit
verursachten Hungersnot, Epidemien, Kriege oder andere
vorübergehende Katastrophen einen Rückgang der Bevölkerung. Heute
sind es die sichersten und wohlhabendsten Länder, deren
Einwohnerzahl schrumpft und in denen Kinder rar sind. Modernität ist
der Hauptgrund für sinkende Geburtenraten. In unseren Gesellschaften
haben die am besten ausgebildeten und materiell erfolgreichsten
Mitglieder die wenigsten Kinder.
Wenn ein Evolutionsbiologe
beim Studium einer anderen Gattung feststellen würde, dass
diejenigen Männchen und Weibchen, die bei der Nahrungssuche am
erfolgreichsten sind, hohe Unfruchtbarkeitsraten aufweisen, müsste
er daraus schliessen, dass diese Gattung im Begriff ist auszusterben
oder vor einer dramatischen Mutation steht. Sind die menschlichen
Populationen in Europa eine glückliche Ausnahme?
Ein
demographisches Vakuum wird aufgefüllt. Einzig Einwanderung kann
verhüten, dass die Abwärtsspirale in der europäischen
Bevölkerungsentwicklung sich immer schneller dreht. Die EU braucht
jährlich 1,6 Millionen Einwanderer, um die im arbeitsfähigen Alter
stehende Bevölkerung auf gleichem Niveau zu halten. Um 2050 wird in
Italien und Spanien das Verhältnis von Erwerbstätigen zu
Pensionierten 1:1 sein. Im europäischen Durchschnitt (zu dem die
Schweiz gehört) werden vier Erwerbstätige für drei Pensionierte
aufkommen müssen.
Im südlichen «Hinterland» Europas, dem
Gürtel von Pakistan bis Marokko, wo die Bevölkerung vorläufig immer
noch stark zunimmt, steht ein riesiges Reservoir von in ihren
Ländern überschüssigen, beschäftigungslosen jungen Menschen bereit,
die darauf brennen, die Bevölkerungslücken in Europa zu schliessen.
Fast alle sind Muslime. Bereits heute leben in der EU
schätzungsweise 20 Millionen oder 5% Muslime. Hält der Trend an,
werden es 2020 schon 10% sein. 7% aller letztes Jahr in Europa
geborenen Kinder sind muslimisch, in einer Stadt wie Brüssel sind es
gar 57%. Schätzungsweise ein Viertel aller französischen Schüler
sind schon heute Muslime. Der Historiker und Islamforscher Bernard
Lewis fasst die Entwicklung so zusammen: «Europa wird Teil des
arabischen Westens sein, des Maghrebs. Dafür sprechen Migration und
Demographie. Europäer heiraten spät und haben keine oder nur wenige
Kinder. Aber es gibt die starke Immigration: Türken in Deutschland,
Araber in Frankreich und Pakistaner in England. Diese heiraten früh
und haben viele Kinder. Nach den aktuellen Trends wird Europa
spätestens Ende des 21. Jahrhunderts muslimische Mehrheiten in der
Bevölkerung haben.»
Secondos träumen vom Kalifat
Diese Entwicklung wird die
europäische, «abendländische» Kultur verändern. Steffen Kröhnert vom
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung gibt ein Beispiel:
«Schauen Sie sich eine Region wie das Ruhrgebiet an. Dort werden
schon 2010 etwa 50 Prozent der unter 30-Jährigen einen
Immigrationshintergrund haben, weil die Deutschen kaum Kinder
kriegen und aus den Städten weggezogen sind und die, die
zurückbleiben, viele Kinder kriegen. Natürlich sind das Migranten.
Wenn man davon ausgeht, dass jüngere Menschen unter 30, 35 viel
aktiver in die Gesellschaft wirken als Ältere und Rentner, kann man
sich vorstellen, dass dies die öffentliche Kultur verändert, weil
diese 50 Prozent Ansprüche stellen, ihre Kultur in dem Land zu
verankern.»
Während die grosse Mehrheit der Einwanderer damit
zufrieden ist, ein Auskommen zu finden, Familien zu gründen und im
Gastland heimisch zu werden, haben junge, von einer islamistischen
Ideologie beseelte Hitzköpfe der zweiten Generation oft ehrgeizigere
Ziele. Diese von radikalen Imamen oder Websites indoktrinierten, aus
Westasien oder Nordafrika stammenden Secondos träumen von der
Wiedererrichtung des Kalifats, von der Vereinigung aller Muslime
unter einer Flagge. Deren Extremismus ist nicht bloss eine Reaktion
ausgegrenzter Unterschichtler. Unter den Neoislamisten finden sich
viele erfolgreich integrierte Söhne und Töchter von Emigranten, wie
der niederländische Informatikstudent Mohammed Bouyeri, Kind
mausarmer analphabetischer Einwanderer aus Marokko und Mörder des
Künstlers Theo van Gogh.
Letzten Monat berichtete die
Washington Post über Hizb ut-Tahrir, eine in 40 Ländern aktive
Ablegerorganisation der Muslimbruderschaft, deren erklärtes Ziel die
Islamisierung der Welt ist. Der Artikel beschreibt, wie 800 junge,
gutgekleidete Dänen, meist muslimische Secondos, an einem
Sonntagmorgen sich vier Stunden lang Vorträge anhörten, in denen man
ihnen erklärte, wie die islamische Welt durch westliche Ideen wie
Nationalismus und Demokratie verdorben wurde. Grausliche Bilder
getöteter irakischer Kinder wurden an die Wand projiziert, und Fadi
Adbullatif, ein dänischer Sprecher von Hizb ut-Tahrir, rief aus:
«Niemand kann bezweifeln, dass der sogenannte Krieg gegen den
Terrorismus ein Krieg gegen den Islam ist. Der islamische Staat ist
der einzige Schutz, der einzige Schild für Muslime.» Am Ende der
Veranstaltung, die mit einem machtvollen Chor «Allahu akbar!»
endete, blickte der im Libanon geborene Muziz Abdullah in den bis
auf den letzten Platz besetzten Saal und sagte dem Reporter: «Vor
zehn Jahren war es völlig unrealistisch, zu denken, dass es je ein
Kalifat geben würde. Heute glauben die Leute, dass es in wenigen
Jahren geschehen kann.»
Wenn nicht das Kalifat angestrebt
wird, dann mindestens die Ausdehnung der islamischen Scharia. Laut
einer Meinungsumfrage von 2004 wünschen 60% der britischen Muslime
(1,6 Millionen), unter dem religiösen Gesetz der Scharia und nicht
dem althergebrachten englischen Recht (Common Law) zu
leben.
In allen Städten und Gegenden Europas leben junge
Muslime, die im Islam einen neuen Lebenssinn entdeckt haben, die an
den Dschihad, den heiligen Krieg, glauben und bereit sind, für ihre
Sache zu töten und zu sterben. Der radikale Islam, sagt Bernard
Lewis, habe eine grosse Anziehungskraft auf junge Menschen, da er
ihnen Überzeugungen und Gewissheiten vermittle, ihnen die Erfüllung
einer Mission gebe.
Mehr noch als die Anschläge von Madrid
und London ist die Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh in
Amsterdam ein Vorbote dessen, was auf uns zukommen könnte. Die
vorsätzliche Tötung oder bereits schon die Einschüchterung von im
Rampenlicht stehenden Personen, die sich der Ausbreitung des Islams
in Europa widersetzen oder einfach die Gefühle der Muslime verletzt
haben, ist eine wirkungsvolle Taktik zur Aufweichung des Bürgersinns
der einheimischen Bevölkerungen. Im Falle Theo van Gogh schoben
wohlmeinende Zeitgenossen und wohlgesinnte Medienleute dem
provozierenden Filmemacher die Schuld für die eigene Ermordung zu.
Er hätte eben die Muslime nicht beleidigen dürfen. Wie in Frischs
Theaterstück neigen Biedermänner dazu, sich einnistende Brandstifter
gewähren zu lassen.
Kampfbegriff «Islamophobie»
Eine andere, subtilere
Taktik der Islamisten besteht darin, Kritiker ihres Tuns, Redens und
Denkens des Rassismus und der Islamophobie zu bezichtigen. Sie
stellen sich selber als Opfer westlicher kolonialistischer Denkweise
dar und erzeugen dabei bei der einheimischen Bevölkerung
Schuldgefühle, die den Widerstandswillen ebenfalls schwächen. Der
gegenwärtig lodernde Propagandakrieg um die dänischen
Mohammed-Karikaturen zeigt, wie eine gutorganisierte Kampagne –
diplomatische Initiativen, Demonstrationen, Lügen, Morddrohungen,
Verbrennung von Fahnen, Boykotte, Angriffe auf Botschaften –
europäische Regierungen und Bevölkerungen in die Defensive drängen
kann.
Nach den Bombenanschlägen in London vom 7. Juli letzten
Jahres beeilten sich nicht nur muslimische Notabeln, sondern auch
britische Politiker, vor einem «backlash» gegen die muslimische
Bevölkerung zu warnen. Für viele war weniger die Ermordung braver,
ihrer Arbeit nachgehender Leute tadelnswert als die daraus
möglicherweise resultierende, hypothetische «Islamophobie». Wie der
kanadische Kommentator Mark Steyn sarkastisch bemerkte: «Die alte
Definition einer Nanosekunde war die Zeitspanne zwischen dem
Wechseln der Verkehrsampeln in New York auf Grün und dem ersten
Hupen eines Wagens hinter dir. Die neue Definition ist die
Zeitspanne zwischen einem Terrorbombenanschlag und dem
Pressecommuniqué einer vor einem ‹backlash› gegen die Muslime
warnenden islamistischen Lobby.»
Permanent schlechtes Gewissen
Angst, man könnte die
Gefühle der Muslime verletzen, hat zu komischen Auswüchsen geführt.
So wurden Beamte in der Sozialhilfeabteilung von Dudley in den
britischen West Midlands dazu angehalten, alle Gegenstände, die
Schweine darstellten, darunter Spielzeuge, Sparschweinchen,
Porzellanfiguren, Kalender und eine mit den Kinderbuchfiguren Winnie
the Pooh und Piglet illustrierte Papiernastuchschachtel,
verschwinden zu lassen oder mindestens zuzudecken, um nicht
muslimische Mitbürger vor den Kopf zu stossen.
Um die
Sensibilität von Leuten zu schonen, die nichts dabei finden, wenn
islamistische Websites Videos von der blutigen Enthauptung von
Geiseln verbreiten, üben wir in Europa eine immer einschneidendere
Selbstzensur. Als Kenan Malik, ein britischer Autor indischer
Herkunft, von der Zeitung Independent eingeladen wurde, über den
berühmten Freidenker des 18. Jahrhunderts Tom Paine zu schreiben,
setzte er seinem Essay ein Zitat aus Salman Rushdies «Satanischen
Versen» voran. Damit wollte er zeigen, dass Paines Kampf gegen
religiöse Popanze auch heute noch relevant ist. Das Zitat wurde von
der Redaktion als «zu beleidigend für Muslime»
herausgestrichen.
Noch bevor die dänische Zeitung
Jyllands-Posten ihre Mohammed-Zeichnungen veröffentlichte, erklärte
Ian Jack, Chefredaktor der angesehenen literarischen Zeitschrift
Granta: «Es gibt kein staatliches Gesetz, das eine bildliche
Darstellung des Propheten verbietet. Trotzdem erwarte ich nicht, ein
solches Bild zu sehen. Auf der einen Seite steht das Recht des
Individuums, ein solches Bild auszustellen oder zu veröffentlichen,
auf der anderen Seite die masslose Beleidigung und der Schaden an
Leben und Gut, die die Ausübung eines solchen Rechtes verursachen
würde. In diesem Fall verstehen wir, dass der Preis zu hoch ist,
obschon wir als Ungläubige die Kränkung nicht verstehen.» Die
Dschihadisten unter Europas Muslimen haben bloss Verachtung für
diese Leisetreterei. Sie sehen jedes Zurückweichen vor ihren
Forderungen als Zeichen der Schwäche einer dekadenten, sturmreifen
Zivilisation.
Wohlstand, Verweichlichung, Verfall und
Auslöschung sind die Stufen des Abstiegs von Hochkulturen. «Ich habe
den Triumph von Barbarei und Religion beschrieben» – mit diesen
Worten fasste Edward Gibbon im 18. Jahrhundert sein monumentales
Werk «The Decline and Fall of the Roman Empire» zusammen.
Demographie und Überlebenswillen spielten bei dem von Gibbon
beschriebenen Aufstieg des Christentums zur führenden Weltreligion
die entscheidende Rolle. Der Soziologe Rodney Stark weist nach, dass
im Römischen Reich die frühen Christen eine höhere Geburtenrate als
die Heiden hatten, weniger Kindsmord praktizierten und weniger früh
starben. Ihr demographischer Vorteil trug dazu bei, dass die
marginale Jesus-Bewegung zur dominierenden kulturellen Macht des
Westens wurde.
Im Bett mit der höheren Macht
Nie seit dem Fall des
Römischen Reiches hat die Welt einen Fruchtbarkeitsrückgang wie den
heutigen erlebt. In seinem Buch «The Empty Cradle» zeigt Philip
Longman, dass ein zunehmend grösser werdender Anteil der
Weltbevölkerung von Menschen produziert wird, die glauben, dass eine
höhere Macht ihnen die Fortpflanzung befiehlt. Diese höhere Macht
kann «Gott, der durch Abraham, Jesus oder Mohammed oder irgendeinen
Heiligen der letzten Tage spricht, oder eine totalitäre Macht»
sein.
Fundamentalisten jeder Art haben mehr Kinder. Wenn
dieser Trend sich fortsetze, sagt Philip Longman, dann werde «die
menschliche Kultur von ihrem gegenwärtigen marktorientierten,
individualistischen, modernen Kurs weggetrieben und schrittweise
eine von fundamentalistischen Werten dominierte marktfeindliche
Kultur schaffen».
In den USA haben die Staaten im Bibelgürtel
die höchsten Fruchtbarkeitsraten mit dem Spitzenwert im
Mormonenstaat Utah. Im laizistischen, modernen Europa sind dagegen
gläubige Muslime die einzige ins Gewicht fallende
fundamentalistische Bevölkerungsgruppe, die sich rasch fortpflanzt.
Ihr kultureller und politischer Einfluss wird unweigerlich
wachsen.
Dies um so mehr, als Europa nicht nur einer
demographischen Krise mit unabsehbaren Folgen entgegengeht, sondern
auch in einer geistigen Krise steckt. Der amerikanische Denker David
Hart glaubt, Europa leide an «metaphysischer Langweile» – an
«Langeweile am Mysterium, an der Passion und dem Abenteuer des
Lebens». Ein Europa ohne spirituelle Visionen und Ziele langweilt
sich zu Tode. Schon 1976 sah Raymond Aron die Zeichen an der Wand.
In «Plaidoyer pour l’Europe décadente» gab er der Befürchtung
Ausdruck, dass Westeuropa sein Selbstvertrauen, seinen Siegeswillen,
«die Fähigkeit zu kollektiver Handlung und historische Vitalität»
verliere – überhaupt das, was Machiavelli «virtu» nennt. «Die
Zivilisation egozentrischen Geniessens», schrieb er, «verurteilt
sich selber zum Tode, wenn sie das Interesse an der Zukunft
verliert.» Was Aron nicht ahnen konnte, war, dass ein
wiedererwachter Islam bereitstehen würde, das Erbe einer Selbstmord
begehenden humanistischen europäischen Zivilisation
anzutreten.
Der amerikanische Theologe George Weigel meint,
dass die radikalisierten Muslime des 21. Jahrhunderts, welche die
militärischen Niederlagen ihrer Glaubensbrüder bei Poitiers 732,
Lepanto 1571 und Wien 1683 sowie deren Vertreibung aus Spanien 1492
bloss als temporäre Rückschläge anschauen, nicht zu Unrecht hofften,
die Stunde des Endsiegs sei nahe. Wenn ein Europa, das sich selber
kulturell entwaffnet hat, zu «Eurabia», einem blossen Zusatz der
arabisch-islamischen Welt, werde, sagt Weigel, dann entbehre dies
nicht der Ironie: «Das Drama des atheistischen Humanismus, der
Europa von seiner Seele entleert, würde im Triumph eines gänzlich
unhumanistischen Theismus enden. Europas gegenwärtige Krise
zivilisatorischer Moral würde ihren bitteren Abschluss erreichen,
wenn die Notre-Dame-Kathedrale zu einer Hagia Sophia an der Seine,
eine andere grosse christliche Kirche zu einem islamischen Museum
wird.»
So weit wird es kaum kommen. Aber die demographischen
Verschiebungen der nächsten zwei oder drei Jahrzehnte werden zu
gefährlichen Konflikten, zu Bürgerkriegswirren und zu Verschiebungen
in den internationalen Machtverhältnissen führen. Wie Steffen
Kröhnert und der Bremer Völkermordforscher Gunnar Heinsohn
aufzeigen, besteht ein direkter Zusammenhang zwischen
Bevölkerungsstrukturen und gewaltsamen Konflikten. Gesellschaften
mit einem sogenannten «youth bulge», das heisst mit einem grossen
Anteil von jungen Männern im Alter von 15 bis 30, die keine
angemessenen Positionen finden können, werden entweder die eigenen
Länder destabilisieren, oder sie bilden für ihre Umgebung eine
aggressive Gefahr. Bei überzähligen jungen Männern, schreibt
Heinsohn, sei es «so gut wie immer zu blutigen Expansionen sowie zur
Schaffung und Zerstörung von Reichen» gekommen und es spreche wenig
dafür, «dass diese Sprengkraft gerade bei der grössten Sohneswelle
der Geschichte ausbleiben könnte».
«Entschuldigt euch nicht!»
Dieser muslimischen
«Sohneswelle» an der Südgrenze Europas wird eine alternde
Gesellschaft in Spanien, Italien und Griechenland gegenüberstehen.
Zwar sind die europäischen Gesellschaften nicht die einzigen, die an
Überalterung leiden. Japans Bevölkerungszahl wird im nächsten halben
Jahrhundert um einen Drittel sinken. Die erwartete Einbusse ist
vergleichbar mit dem durch Pestepidemien verursachten
Bevölkerungseinbruch im Europa des «schrecklichen» 14. Jahrhunderts.
Selbst China wird sich bald mit den Problemen der Vergreisung
herumschlagen müssen. Aber das Bevölkerungsgefälle zu den
benachbarten Kontinenten Afrika und Asien macht Europas Lage
besonders kritisch. Die internationalen Machtverhältnisse werden
sich verschieben.
Steffen Kröhnert kann sich vorstellen, dass
die Länder mit stark wachsenden und jugendlichen Bevölkerungen – und
dies sind die muslimischen Länder von Pakistan bis Marokko –
«natürlich immer mehr Ansprüche stellen werden – Ansprüche auf
Zugang zu Ressourcen und zu internationalen Machtpositionen – und
dass diese alternden Gesellschaften dann Zugeständnisse werden
machen müssen. Man kann nicht mit einem grossen Drohpotenzial
auftreten, wenn man eine stark alternde Bevölkerung hat.» Wenn das
Potenzial, überhaupt Streitkräfte zu stellen, nicht mehr da ist, wie
können sich die politischen Eliten in Europa terroristischen oder
künftigen militärischen Drohungen von Ländern mit grossem
Jugendanteil entgegenstellen? In den kommenden 15 Jahren werden –
gemäss Heinsohn – in den Entwicklungsländern etwa 720 Millionen
Jungen ins kampffähige Alter kommen, von denen «mindestens 300
Millionen – zweite bis vierte Söhne – in die Territorien der
entwickelten Welt drängen». Diesen 300 Millionen entschlossenen,
harten, wagemutigen jungen Männern werden 100 Millionen zu Frieden
und Gewaltlosigkeit erzogene Gleichaltrige in der entwickelten Welt
gegenüberstehen. Die Hereindrängenden haben nichts zu verlieren, die
Einheimischen ihren Wohlstand und Komfort.
Der Streit um die
Mohammed-Karikaturen zeigt, welchen Druck islamistische Gruppen und
islamische Staaten schon heute ausüben können. Gefährdet ist die
grosse Leistung der Aufklärung: die Gedanken- und Redefreiheit.
Voltaire und seinen Mitstreitern gelang es, die Macht der Kirche
über das Denken der Menschen zu brechen. Jetzt fordern muslimische
Vordenker eine Beschränkung der Redefreiheit. Ein zentraler Wert des
aufgeklärten Europas steht auf dem Spiel. In einem diese Woche im
Spiegel online erschienenen Essay sagt der in pakistanischen
Koranschulen erzogene, heute im Westen lebende Schriftsteller Ibn
Warraq klar, worum es geht: «Ohne das Recht der freien
Meinungsäusserung kann eine Demokratie nicht lange überleben – ohne
die Freiheit zu diskutieren, unterschiedlicher Meinung zu sein,
sogar zu beschimpfen und zu beleidigen. Es ist eine Freiheit, der
die islamische Welt so bitter entbehrt, und ohne die der Islam
unangefochten verharren wird in seiner dogmatischen, fanatischen,
mittelalterlichen Burg; verknöchert, totalitär und intolerant. Ohne
fundamentale Freiheit wird der Islam weiterhin das Denken,
Menschenrechte, Individualität, Originalität und Wahrheit ersticken.
Solange wir keine Solidarität mit den dänischen Karikaturisten
zeigen, unverhohlene, laute und öffentliche Solidarität, so lange
werden diejenigen Kräfte die Oberhand gewinnen, die versuchen, dem
freien Westen eine totalitäre Ideologie aufzuzwingen – die
Islamisierung Europas hätte dann in Raten begonnen. Entschuldigt
euch also nicht!»
Die Machtverschiebung zugunsten
muslimischer Gesellschaften und der wachsende Anteil junger, von
ihrer Religion überzeugter Muslime in den europäischen Ländern
sollten eigentlich vor allem die politische Linke aus dem Busch
klopfen. Ihre Ziele und Ideale laufen am ehesten Gefahr, unter die
Räder islamistischer Intoleranz zu kommen. Der konservative
Kommentator Mark Steyn formulierte dies so: «Wieso denn, wenn eure
grossen Anliegen Feminismus, Abtreibung und Schwulenrechte sind,
seid ihr euch so sicher, dass der Kult der Toleranz überlebt, wenn
der grösste demographische Anteil in eurer Gesellschaft
frisch-fröhlich intolerant ist?»
Kopftuch für alle?
Schon heute werden in
niederländischen Stadtvierteln mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit
Juden, Homosexuelle und «unzüchtig» gekleidete Frauen von jungen
Muslimen bedroht. Werden sich unter zunehmendem islamischem Druck
unsere Sitten weiter verändern? Werden Buchhandlungen islamkritische
Werke weiterhin verkaufen dürfen? Wird man den Alkoholausschank
beschränken? Werden sich unsere Frauen dezenter kleiden müssen? Wird
es sich eine französische Regierung noch erlauben können,
muslimischen Schülerinnen das Tragen des Kopftuchs zu verbieten?
Wird es unser Fernsehen wagen, Islamkritiker in den «Zischtigsclub»
und die «Arena» einzuladen?
Weil die zu erwartenden
gewaltigen und vermutlich leider auch gewaltsamen Auswirkungen des
Bevölkerungsschwunds in Europa sich kaum schon in den nächsten
Jahren bemerkbar machen werden, stecken wir – Politiker und
Öffentlichkeit – den Kopf in den Sand. Während die Lunte zum Brand
von Europa bereits glimmt, schwätzen wir über alles andere – wir
ereifern uns über Feinstaub, Steuerwettbewerb, Pitbulls, die
Privatisierung der Swisscom und weitere der von Toynbee
beschriebenen «oberflächlichen, Schlagzeilen machenden Dinge».
Arnold Toynbee hat auch gesagt, dass Zivilisationen nicht ermordet
werden, sondern Selbstmord begehen. Europa ist auf dem besten Weg
dazu.
Hier beginnt der aufgeklärte Sektor
Besteht die
Hoffnung, dass die jahrtausendealte europäische Zivilisation ihren
anscheinend vorprogrammierten Selbstmord abwenden kann?
Ausgeschlossen ist es nicht. Drei Szenarien kann man sich
vorstellen, die den Niedergang bremsen oder aufhalten
könnten.
Erstens müsste ein geistiger Schub – vergleichbar
etwa mit den grossen religiösen Erweckungsbewegungen, wie sie
England und die USA im 19. Jahrhundert erlebten – durch Europa
gehen, der eine höhere Geburtenrate begünstigen
würde.
Zweitens müssten die europäischen Staaten durch eine
die nichtmuslimischen Kulturkreise bevorzugende Einwanderungspolitik
eine grössere kulturelle Diversifizierung erreichen.
Drittens müsste es den europäischen Gesellschaften durch
sozialpolitische Massnahmen gelingen, die einwandernden Muslime von
der Gültigkeit der aufgeklärten Moderne zu überzeugen und sie
kulturell zu assimilieren. Dies würde der europäischen Kultur ihre
Souveränität und den europäischen Staaten ihre Identität bewahren.
Voraussetzung allerdings ist, dass Europa sein Selbstvertrauen und
den Willen zur Selbstbehauptung wiedererlangt.
Statt an den
Amerikanern herumzumäkeln, täten wir gut daran, von der immer noch
erfolgreichen Schmelztiegelpolitik der USA zu lernen. Die USA mit
einer Gesamtfruchtbarkeitsrate von 2,1 und einer ungebrochenen
Einwanderung werden im Gegensatz zu Europa auch bis 2050
kontinuierlich wachsen. In europäischen Publikationen formulierte
Prophezeiungen über den Niedergang der Supermacht USA sind reines
Wunschdenken.
Über einen Niedergang der europäischen
Zivilisationen könnten sich auch die Amerikaner nicht freuen. In
einem «Brief an die Europäer» erinnert der amerikanische Historiker
Victor Davis Hanson daran, dass Europa die Quelle der westlichen
Tradition ist, wie dies am offensichtlichsten Kulturgüter wie die
Akropolis, das Pantheon, die Uffizien oder der Vatikan zeigten: «Wir
Amerikaner müssen gestehen, dass die ‹grossen Bücher› – wir selber
haben bisher noch keinen Homer, Vergil, Dante, Shakespeare oder
Locke hervorgebracht, von da Vinci, Mozart oder Newton gar nicht zu
reden – und die ‹grossen Ideen› des Westens von der Demokratie zum
Kapitalismus bis zu den Menschenrechten alle auf eurem Kontinent
gewachsen sind.» Gerade deshalb, fährt Hanson fort, klammerten sich
die Amerikaner an die Hoffnung, dass Europa «in der elften Stunde»
aufwachen werde, sein Erbe wieder entdecke, um zusammen mit Amerika
«die Idee des Westens gegen die neueste illiberale Geissel des
islamischen Faschismus» zu verteidigen.
Hanson schliesst mit
den Worten: «Die Geschichte verzeiht nicht. Niemand erhält einen
Freibrief einzig aufgrund des Dunstes vergangener Glorie. Entweder
wird eure Wirtschaft sich erneuern, eure Bevölkerung sich
vervielfachen und eure Bürgerschaft sich verteidigen – oder eben
nicht. Und wenn nicht, wird das Europa, das wir gekannt haben,
sterben – zur grossen Freude der Islamisten und zur schrecklichen
Trauer Amerikas.»
Bernard Lewis: Die
Wut der arabischen Welt. Campus, 2003. 192 S., Fr. 34.90
Gunnar Heinsohn: Söhne und Weltmacht.
Terror im Aufstieg und Fall der Nationen. Orell Füssli, 2003. 189
S., Fr. 39.80
Oswald Spengler: Der
Untergang des Abendlandes. dtv, Reprint 1997. 1250 S., Fr. 35.50
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